Sieben Thesen für Radio München
1) Der gesellschaftliche Wandel
„Städte erlauben Menschen, schneller voneinander zu lernen“, schreibt der Zukunftsforscher Matthias Horx in seinem „Buch des Wandels“. Städte sind die Schmelztiegel des gesellschaftlichen Wandels. Damit der Wandel gelingt, müssen sich alle Bereiche der menschlichen Kultur synchronisieren: die Ökonomie, die symbolische Ebene (Kunst), die Technik, die Politik, die mentale Ebene und die alltagskulturelle Ebene. Der Ethnologe Peter Finke meint dazu: „Aussichtsreich ist ein kultureller Wandel nur, wenn er von unten kommt. Am schnellsten begreifen dies oft Künstler.“ Die Kunst ist als Bewegungsmelder der Gesellschaft zu verstehen.
Der grundlegende Auftrag für Radio München ist es, diesen gesellschaftlichen Wandel zu begleiten und es seinen Hörern zu ermöglichen, an ihm teilzuhaben, ihn zu verstehen. Das bedeutet für uns: Kunst und Stadtkultur hörbar zu machen, ihr den Spiegel vorzuhalten.
2) Die Vernetzung in der Stadt
„Stadtluft macht frei.“ Das ist auch heute noch richtig, aber es hat Folgen. Zwar gilt: Je weniger der Mensch an eine soziale Gruppe gebunden ist, desto deutlicher kann er seine Individualität herausbilden. Der industrielle Wohlstand macht seine Unabhängigkeit möglich und befähigt ihn, seine Beziehungen selbst zu gestalten. Aber er muss sie auch selbst gestalten. So existiert besonders in der Stadt eine Sehnsucht nach unverbrüchlichen Bindungen, Gemeinschaftsgefühl und verbindlichen Werten. Kontaktbörsen wie Parship, new-in-town oder secret-dinner zeigen, dass die individuelle Gestaltungsmacht über das soziale Leben gar nicht so leicht zu handhaben ist. Die Beziehungsorganisation wird oft an kommerzielle Unternehmen abgegeben. Gleichzeitig gewinnen soziale Netzwerke im virtuellen Raum an Bedeutung, wird transregionale Vernetzung immer bedeutender. Münchens Gesellschaft soll und wird eine multikulturelle, komplexe und über die globalisierten Wissenszugänge eine weltoffene Gesellschaft bleiben. Doch was für wirtschaftliche Produktionsketten sinnvoll scheint, gilt auch für den sozialen Wandel: Überschaubare Netzwerke sind nützlicher als globalisierte. Je mehr Menschen dieses Netzes ein Gesicht, eine Stimme und Präsenz erhalten, desto eher gelingt der Wandel. In unserem Programm findet sich Münchner Leben in all seinen Ausdrucksformen und nimmt jederzeit Bezug auf die Welt.
Es ist der zweite Grundauftrag von Radio München, zur Beziehungsqualität der Stadtgemeinschaft beizutragen. Seine Stadt und sein Viertel kennenzulernen, eingeladen werden zu kulturellen Veranstaltungen, auf kreative, offene Mitmenschen treffen heißt, verbunden zu sein. Wir wollen die Menschen dieser Stadt vernetzen.
3) Das Potenzial der Kultur
Wie die Wissenschaft aus der Natur, so können Wirtschaft, Politik und Familie aus der Kunst lernen: Der künstlerische Prozess hat eine wichtige Funktion beim Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Kultur. Und die Kunst lehrt uns: Je häufiger eine Improvisation gewagt wird, desto kreativer und mutiger beginnen die nächsten Prozesse. Suchen, Zweifeln, Scheitern werden immer leichter bewältigt und bilden gleichzeitig den Urgrund einer sensiblen Robustheit. Eher beiläufig entwickelt sich die eine oder andere Innovation. Daraus leiten sich Erkenntnisse auch für vermeintlich rational denkende und planende Systeme wie Wirtschaft oder Politik ab. Zudem werden neue strukturelle Prozesse in Musik, Literatur, Tanz oder auf Leinwänden als Vision vorweggenommen, soziale Zukunft beispielsweise im Theater.
Radio München hat den Finger am kulturellen Puls unserer Stadt. Wir unterstützen das Münchner Immunsystem, in dem wir künstlerisches Wirken zugänglich machen. Unendlich viele Innovationen schlummern in Münchens Ateliers, auf seinen Bühnen, in Kinos und in Konzertsälen. Aber nicht immer dringen sie zu denjenigen durch, die diese Anregungen verarbeiten könnten. Radio München will auch hier verbinden. Durch unsere kulturelle Berichterstattung verbreiten wir das geistige Potenzial der Stadt.
4) Lebensqualität und Vertrauen
In dem zentralasiatischen Land Bhutan ersetzt das Bruttonationalglück das Bruttonationaleinkommen. Es ist der Versuch, den Lebensstandard nicht durch ökonomische Kennzahlen, sondern über humanistische und psychologische Kenngrößen zu definieren. Auch in europäischen Ländern wird immer mehr bezweifelt, dass das Bruttosozialprodukt der Schlüssel zum Glück ist. Andere Werte wie Lebensqualität gewinnen an Wichtigkeit. Vertrauen ist ein Teil davon. Wer seinem Nachbarn vertraut, geht in seiner Verbundenheit mit ihm über den engsten Familienkreis, über die Nationalität oder die Ethnie hinaus. Vertrauen beruht wesentlich auf gegenseitigem Verstehen. Wer den anderen verstehen lernt, kann ihm vertrauen.
Wir von Radio München wollen Vertrauen durch besseres Verständnis fördern. Radio München trägt dazu bei, dass sich die Menschen dieser Stadt intellektuell und über die Darstellung ihrer Kulturen wahrnehmen und begreifen lernen.
5) Das kulturelle Miteinander
Längst ist durch Mobilität und die dadurch gewonnenen Erfahrungen in fernen Ländern und Kulturen klar geworden: Es gibt viele gleichwertige Wege zu denken, zu leben und zu lieben. Der Begriff der „Koevolution“ hält Einzug im modernen Miteinander. Doch diese Diversität ist zwar in vielen global agierenden Unternehmen gängig, in der Münchner Stadtverwaltung und im bayrischen Landtag zum Beispiel aber noch kaum vertreten. Auch in Bildungsinstitutionen und Medien sind Mitbürger mit Migrationshintergrund unterdurchschnittlich repräsentiert.
Radio München berichtet vom Gelingen des kulturellen Miteinanders. In unserer Sendung „Echt sozial“ wird über das multikulturelle Tätigsein der Stadtbewohner gesprochen. Wir wollen bei unseren Hörern das Bedürfnis nach Teilhabe und Kooperation vervielfachen. Denn ein Umfeld, so Matthias Horx, in dem Erfolge und Zusammenarbeit vorherrschen, wirkt motivierend.
6) Toleranz und Gerechtigkeit
Unsere Verfassung garantiert Minderheitenschutz und Religionsfreiheit. Der Schritt zum gelebten Miteinander unter den Generationen und im Religiösen bis hin zur Ökumene ist allerdings eine bildungs-, sozial- und rechtspolitische Herausforderung.
Das Bemühen um Toleranz und Anerkennung in kulturellen Werken aufspüren und zeigen, der realen Stadtgesellschaft nachahmenswerte Beispiele vorstellen - auch das verstehen wir als unsere Aufgabe.
7) Die mediale Erneuerung
Kultur ist für die Wirtschaft gern schmückendes Beiwerk oder dient als steuerliches Abschreibungsmodell. Auch die gängigen Medien verstehen sich als gewinnorientierte Unternehmen. Kein Wunder, dass zählt, was der Rendite nützt, und nicht die kreative Klasse. Kein Wunder, dass ein entsprechender Umgang mit der Kultur auch in den Kulturredaktionen (exemplarisch: BR, WDR oder Süddeutsche Zeitung) gepflegt wird. Wenn echte Kulturarbeit gekürzt oder inhaltsleer wird, taucht sie an anderer Stelle wieder auf. In München wachsen zum Beispiel das „Münchner Feuilleton“, "Kulturvollzug" oder „Radio München“ heran. So wird das Neue das Alte transformieren.
Radio München folgt den Pfaden der Kultur und den neuen Assoziationen des Wissens, stellt das Werden und Verändern in den Mittelpunkt – nicht nur inhaltlich, auch pragmatisch.
Wir zeigen die Stadt!
aus Gesprächsnotizen, April 2012:
Prof. Wolfgang Stark, Labor für Organisationsentwicklung, Universität Duisburg-Essen; Dr. Elif Duygu Cindik, Psychologin, stellvertretende Bundesvorsitzende der türkischen Gemeinde; Wolfram Huncke, ehem. Chefred. „bild der wissenschaften“, ehem. Leiter Kommunikation des Wuppertal Instituts, heute Büro für Industrie- und Wissenschaftskommunikation; Bodo Nibbe, Rechtsanwalt
Horx, Matthias: Das Buch des Wandels, München, 2009